1.2. Nicht von der (eigenen) Tradition her auslegen
Ein weiteres Problem ist erkenntnistheoretischer Natur. Wir lesen nicht nur die Dinge in die Bibel hinein, die wir wollen oder die von Versionskonflikten herrühren, sondern auch unseren gesamten Hintergrund. Wir nähern uns der Bibel als ganze Menschen mit unserer ganzen Biographie: seelisch, sozial und nicht zuletzt theologisch. Man kann das als eine Brille bezeichnen, die wir beim Lesen der Bibel aufhaben. Hat man eine Brille mit roten Gläsern auf der Nase, erscheint einem die Bibel „rot“, hat man eine grüne auf, erscheint sie „grün“. Viele theologische Konflikte rühren daher, dass wir beim Bibellesen unsere theologischen Brillen aufhaben. Wir lesen nicht voraussetzungsfrei und vorurteilslos, sondern als Baptisten, Pfingstler oder Mennoniten.
Das ist an sich nicht schlimm und überdies auch unvermeidbar. Schlimm wird es, wenn man nicht mehr in der Lage ist, die eigene Vorprägung zu hinterfragen. Leider ist eine Tendenz festzustellen, Theologie und Bibel gleichzusetzen. Nicht nur an die Bibel zu glauben, sondern an eine definitive Auslegung der Bibel.
Das ist falsch. Die Bibel ist Gottes Wort, nicht die Bibelauslegung.
Wenn sich Bibelauslegungen in unserem Kopf zu großen Gedankengebäuden zusammentürmen, versperren sie uns oft den Blick auf die Wirklichkeit der Schrift. Das kann mal ganz kleine Auswirkungen haben, manchmal aber auch katastrophale.

Beispiel: Liebe und Geistesgaben
Ein harmloses Beispiel dafür, wie eine theologische Prägung unser Verständnis der Bibel verschleiern kann, findet sich in 1.Korinther 13. Hast Du auch schon mal gehört, dass Geistesgaben ohne Liebe wirkungslos sind und nichts bringen? Ich habe schon einiges an Predigten darüber gehört und auch in Büchern vieles gelesen, was in diese Richtung geht. Oft ist der Tenor: wir müssen nach Liebe eifern, nicht nach den Gaben, denn ohne Liebe bringen die Gaben ja sowieso nichts.
Aber was sagt Paulus selbst?

Wenn ich mit Menschen und Engelzungen rede, aber keine Liebe habe, so bin ich ein tönendes Erz oder eine klingende Schelle.
Und wenn ich weissagen kann und alle Geheimnisse weiß und alle Erkenntnis habe, und wenn ich allen Glauben besitze, so dass ich Berge versetze, habe aber keine Liebe, so bin ich nichts.
Und wenn ich alle meine Habe austeile und meinen Leib hergebe, damit ich verbrannt werde, habe aber keine Liebe, so nützt es mir nichts! – 1.Korinther 13,1-3

Wenn er keine Liebe hat, nützt es ihm nichts, Geistesgaben auszuüben. Die Gaben nützen dennoch was. Wenn ich von einem total arroganten Menschen geheilt werde, hat mir das einiges genützt. Aber dem Heiler nicht. Gott hat ihn mit dieser Gabe ausgestattet und ist deshalb nicht davon beeindruckt, wenn sein Dienst funktioniert. Gott ist motivorientiert, und eine Haltung der Liebe hätte auch den Heiler selber vor Gott in einem guten Licht dastehen lassen.
Manchmal können solche Vorprägungen ein geistliches Leben zerstören oder extrem behindern. Wie viele Menschen kommen nie in ihre Berufung hinein, weil sie eine falsche Theologie für verbindlich halten? Theologie ist immer Stückwerk und darf niemals gleichberechtigt neben der Bibel stehen. Man darf alles in Frage stellen!
Unter Umständen muss Gott selbst unsere Prägungen durchbrechen und uns die theologische Brille von der Nase reißen, um uns zu einem tieferen Verständnis der Bibel zu verhelfen.

Beispiel: Martin Luther (1)
Inzwischen war ich in diesem Jahr [1518/19] bereits zur erneuten Psalterauslegung zurückgekehrt, da ich darauf vertraute, dass ich nun geübter sei, nachdem ich die Briefe des hl. Paulus an die Römer, an die Galater und den an die Hebräer in den Vorlesungen behandelt hatte. Ich war ja von einem bewundernswerten Verlangen ergriffen worden, Paulus im Brief an die Römer kennen zu lernen. Aber mir hatte bis dahin nicht die Kälte des Herzens im Wege gestanden, sondern ein einziges Wort, das im ersten Kapitel [1,17] steht: Die Gerechtigkeit Gottes wird in ihm [dem Evangelium] offenbar. Denn ich hasste dieses Wort „Gerechtigkeit Gottes“, das ich durch den Gebrauch und die gewohnte Verwendung bei allen Gelehrten gelehrt worden war, philosophisch zu verstehen von der, wie sie sagen, formalen oder aktiven Gerechtigkeit, durch die Gott gerecht ist und die Sünder und die Ungerechten straft.
Ich aber, der ich, obgleich ich als untadeliger Mönch lebte, mich vor Gott als Sünder mit unruhigstem Gewissen fühlte und nicht vertrauen konnte, dass ich durch meine Genugtuung versöhnt sei, liebte nicht, nein ich hasste den gerechten und die Sünder strafenden Gott. Im geheimen war ich – wenn auch nicht in Verfluchung, so doch in gewaltigem Murren – aufgebracht gegen Gott, indem ich sagte: Gleichsam als ob es wahrlich nicht genug sei, dass die armen Sünder und die durch die Erbsünde ewig verlorenen durch jede Art von Unheil durch das Gesetz des Dekaloges bedroht sind, wenn nicht Gott durch das Evangelium Leid zum Leid hinzufügte, und auch durch das Evangelium uns Gerechtigkeit und seinen Zorn androhte! Ich raste so mit grimmigem und verwirrtem Gewissen, bedrängte aber ungestüm an dieser Stelle Paulus, brennend dürstend, um zu wissen, was der hl. Paulus wollte.
Tag und Nacht dachte ich unablässig darüber nach, bis Gott sich meiner erbarmte und ich auf den Zusammenhang der Worte achtete, nämlich: Die Gerechtigkeit Gottes wird in ihm offenbar, wie geschrieben steht: ‚Der Gerechte lebt aus Glauben‘. Da fing ich an, die Gerechtigkeit Gottes als die Gerechtigkeit zu verstehen, durch die der Gerechte als durch Gottes Geschenk lebt, nämlich aus dem Glauben, und begriff, dass dies der Sinn sei: Durch das Evangelium wird die Gerechtigkeit Gottes offenbar, und zwar die passive, durch die uns der barmherzige Gott durch den Glauben rechtfertigt, wie geschrieben steht: ‚Der Gerechte lebt aus Glauben‘. Da fühlte ich, dass ich geradezu neugeboren und durch die geöffneten Pforten in das Paradies selbst eingetreten war. Da erschien mir durchgehend ein anderes Gesicht der ganzen Schrift. Ich durchlief danach die Schrift, soweit ich sie im Gedächtnis hatte, und fand auch in anderen Ausdrücken einen ähnlichen Sinn: Werk Gottes, d.h. durch das Gott in uns wirkt; Kraft Gottes, durch die er uns kräftig macht (virtus Dei, qua nos potentes facit); Weisheit Gottes, durch die er uns weise macht; Stärke Gottes; Rettung Gottes (salus Dei); Herrlichkeit Gottes.
Und mit welchem Hass ich vorher das Wort ‚Gerechtigkeit Gottes‘ hasste, mit solcher Liebe schätzte ich es nun als allerliebstes Wort. So wurde mir jene Stelle bei Paulus wahrhaft Pforte des Paradieses. Danach las ich Augustinus‘ Schrift Über den Geist und den Buchstaben. Dort fand ich wider Erwarten, dass auch er die Gerechtigkeit Gottes ähnlich auslegte, nämlich als die Gerechtigkeit, mit der uns Gott bekleidet, indem er uns rechtfertigt. Und obgleich dies noch unvollkommen gesagt war und er hinsichtlich der Zurechnung (imputatio) nicht alles klar darlegte, gefiel es mir doch, dass die Gerechtigkeit Gottes gelehrt wurde als die, durch die wir gerecht gemacht werden. (WA 54, 185f)

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Anmerkungen:

(1) Luther, Vorrede zum 1. Bd der Gesamtausgabe seiner lateinischen Werke, Wittenberg 1545
(vgl. K. Aland, Hilfsbuch zum Lutherstudium, Nr. 753). Zitiert nach:
http://fb02.uni-muenster.de/fb02/minekg/pfnuer/turmerlebnis.html – Hervorhebungen von mir (storch)

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