30. Juli 2006 11

Von den Wandlungen

Friedrich Wilhelm Nietzsche war immer mein Lieblingsfilosof (fiese neue Rechtschreibung). Als Jugendlicher habe ich alles von ihm gelesen, was mir unter die Augen kam, konnte seine Gedichte auswendig usw. Heute möchte ich über ein psychologisches Prinzip bloggen, das für jeden interessant sein dürfte, der sich ernstlich mit Veränderung auseinandersetzt. Veränderung nicht im Sinne einer gesamtgesellschaftlichen Reform sondern im Sinne des „archimedischen Punktes von dem aus ich die Welt aus den Angeln heben kann – der Wandlung meiner Selbst“ (Martin Buber).

Nietzsche schrieb in „also sprach Zarathustra„, von den drei Wandlungen, die der menschliche Geist durchlaufen müsse: vom Kamel zum Löwen und vom Löwen zum Kinde. Zu Anfang drängt es den Geist beladen zu sein, er nimmt gerne Mythen, Ansichten und allerlei Schweres auf sich. Später kommt der grosse Befreiungsschlag: in der Wüste entledigt sich der Geist seines Ballastes; wer wirft jedes „du sollst“ ab und lebt nur nach „ich will“. Er mag nicht mehr glauben und übernehmen – er kommt in die Pubertät. Erst das Durchlaufen dieser Phase macht ihn fähig zum Kinde zu werden und wieder zu lernen. Das Kind nimmt Wahrheit auf, lernt. Aber jetzt ist ein entscheidender Unterschied getan: das Kind nimmt eigene Wahrheit auf. Besser: es eignet sich etwas an.

Ein wichtiger Grund für das mangelnde geistliche Wachstum in Deutschland ist, dass die Christen Angst haben zu pubertieren. Wir kommen selten über das Stadium des Kamels heraus. Bereitwillig „glauben“ wir allen möglichen Quatsch, den wir über Gott gehört haben, den wir aber niemals selber anhand der Bibel und des Lebens geprüft haben. Genau gesagt ist das nicht einmal Glaube. Es ist ausgesprochene Zustimmung zu etwas Halbverstandenem. Glauben kann man nur, was man sich angeeignet und erlitten hat.
Weil wir nie zum Löwen wurden werden wir nicht zum Kinde. Die Aufnahmefähigkeit und geistliches Lernen kommen erst wenn wir selber zu Gott und Glauben gefunden haben, nicht früher.
Ich denke, dass der wichtige Schritt vom Kopf ins Herz in der Wüste stattfindet. Im Kampf mit den alten Wahrheiten. Oder wie Nietzsche sagte: im Kampf mit dem goldenen Drachen „du-sollst“.

 

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9 Kommentare

  1. Da kann ich nur von ganzem Herzen zustimmen 😉

  2. ich habe am wochenende drüber gepredigt. vielleicht setz ich bei gelegenheit mal den link rein.

  3. generell stimme ich dir zu. ich frage mich allerdings, ob diese reihenfolge naturgegeben ist, oder nicht vielmehr auswirkung einer vorherrschenden geistlichen prägung im lande. ist die entwicklung „beladenes kamel-pubertierender löwe-kind“ wirklich der weg? nach 1.johannes 2,12-14 sähe der ideale weg doch eher so aus: kind-pubertierender löwe-vater.

    ich teile dein anliegen: christen brauchen die phase des löwen. aber genau so wichtig ist mir das andere anliegen: dass christen eben nicht am anfang ihres glaubens wie ein kamel beladen werden (oder sich selbst beladen), sondern zum kind entlastet werden. ist das unrealistisch?

  4. wünschenswert wäre das schon. aber meine erfahrung ist, dass jeder schon mit einer prägung kommt und gottes wort JEDEN menschen in enen konflikt zwischen seiner prägung und gottes einstellung setzt.
    johannes schreibt über was anderes, bei ihm geht es um den weg in der reife. nietzsche spricht vom weg in die reife.

  5. Hi Haso, dir kann ich genauso aus ganzem Herzen zustimmen 🙂

    Vor allem zu diesem Part:

    christen brauchen die phase des löwen. aber genau so wichtig ist mir das andere anliegen: dass christen eben nicht am anfang ihres glaubens wie ein kamel beladen werden (oder sich selbst beladen), sondern zum kind entlastet werden. ist das unrealistisch?

    Unrealistisch ist das nicht, es kommt nur bisher leider extrem selten vor – weil bei uns im charism. Bereich viele geistliche Neugeborene (Babys) mit Glaubenslehre (Schwarzbrot) ernährt werden anstatt mit der MILCH der bedingungslosen Liebe des Vaters.
    Folge: Geistliche Bauchschmerzen und Unterernährung.
    Die Frischbekehrten können mangels Milch nicht wachsen – und das traurige Ergebnis sieht man in den Gemeinden: Einige werden religiös und zwanghaft, andere fallen ab, viele werden passiv und steigen innerlich aus, manche werden krank oder landen in der Psychatrie und ein paar (ich zähl mich auch dazu) gehen den Weg, den Storch oben beschrieben hat – vom mit Lehrmeinungen beladenen Kamel zum wütenden Löwen um dann irgendwann endlich zum Kind-Sein und zur Milch durchzudringen. Eigentlich ist das einzige Tragödie. Siehe dazu auch mein post „Milch“ oder „Schweinshaxe“ – das ist hier die Frage

    Der richtige Weg wäre der, so wie in „Nicht wie bei Räubers“ beschrieben. Erst Kind sein + viel Milch bekommen und dann geht es stetig aufwärts in der Entwicklung.

    Aber wer predigt so etwas? Wer sieht die Problematik? Wer teilt diese Milch aus auf eine sanfte Art (wie eine Mutter)?

    Stattdessen arbeiten viele Prediger mit „Entscheid dich!“, „Halte durch!“, „Bleib dran!“, „Widerstehe dir selbst und dem Teufel!“, „Erkenne, dass du Geist bist und eine neue Schöpfung…!“
    Alles schön und gut – aber spricht man so mit Babys? Ist das etwa Milch?

    Milch besteht nicht aus Aufforderungen, geistlichen Prinzipen und Geboten – nicht mal aus Buße und Sündenerkenntnis!
    Nein, Milch ist die bedingungslose und gefühlsmäßig erlebte Liebe des Vaters. Alles andere kann ein geistliches Baby eh nicht verdauen.

    Diese Liebe an sich ranzulassen ist für das Baby (den frisch Bekehrten) ja schon schwer genug aufgrund der inneren Widerstände aus Scham, Angst und Verhärtung. Diese Milch müßte also umso gezielter und ausdauernder ausgeteilt werden, damit sie überhaupt mal durch die Mauern durchdringt. Aber die Christenheit ernährt ihre Babys ja lieber mit der Lieblingslehre ihrer jeweiligen Glaubensgruppierung. Und Milch kommt da nur selten vor. Leider! Bzw. tragischerweise!
    Aber ein paar einzelne Leuten (Jack Frost, Jack Winter, Ed Piorek, Geri Keller, Floyd McClung, Matthias Hoffmann u. A.) , haben das Thema entdeckt und angefangen darüber zu sprechen und zu schreiben. (siehe mp3-und Bücher– Links auf meinem blog)
    Insofern besteht Hoffnung.

    Übrigens wenn man die Lebensgeschichte von Jack Frost liest, dann hat man ein sehr anschauliches Beispiel für den Weg vom Kamel über den Löwen zum Kind. Wobei er ein sehr ausdauerndes „Kamel“ war mit ein sehr kurzen Löwenphase. Aber seine Familie hat eine umso längere stellvertretende Löwerphase durchgemacht.

  6. würde deine predigt darüber gerne hören! kannst du den link zu reinsetzen?

  7. die predigt gibt es irgendwann hier: http://www.theologie.jfrs.de

  8. wow, Nietzsche als Lieblingsphilosoph (ich bleib mal bei der alten Rechtschreibung). Hätt ich nicht erwartet.
    Die Wandlung kann ich gut nachvollziehen. Ich glaub ich bin nicht der einzige Christ, der aus falsch verstandener Demut sich selbst lange am Wachsen gehindert hat. Aber nach dem Stadium des Löwen, vor dem viele Angst haben, kommt wirklich das Kind. Das sagt mir kein frommes Buch, das sagt die Erfahrung.
    Ich hab nur irgendwie das Gefühl, dass alle drei Stadien nicht komplett zeitlich voneinander getrennt sind. Ich fühl ein bisschen von allem in mir.

  9. nietzsche ist ein hammer, er ist klar und verwirrt, gross und klein, brilliant und durchschnittlich. insgesamt vielleicht die zerrissenste figur der deutschen philosophie überhaupt. man kann ihm nicht folgen, aber er kann ispirieren. das ganze dann noch mit einer sprachtgewalt und einem sendungsbewusstsein, die beide ihres gleichen suchen.

    natürlich hast du recht, die phasen stehen nebeneinander. das ist in geistlicher entwicklung immer so. ich denke, es liegt daran, dass der mensch in dieser hinsicht nicht aus einem guss ist sondern ein neben- und miteinander verschiedener ansichten und phasen. in einer hnsicht bist du längst ein kind während du in anderer hinsicht noch lange kamel sein wirst.

2 Pingbacks

  1. […] leidige Beziehung der Christen zur Philosophie erinnert. Ich werde heute Abend über eine Stelle in Nietzsches Zararthustra predigen und dachte daran, dass es in weiten Teilen der Christenheit nur eine Sache gibt, die man […]

  2. […] und an Hasos Tafel. Ich verglich. Storch bloggt immer über sehr kluge Menschen. Er hat schon über Nietzsche gebloggt, über Descartes, Fichte, Luhmann, Tillich, Bultmann, Pascal, über Sherlock Holmes und […]

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